Redeanalyse

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Weißt du, wie man eine Inhaltsangabe schreibt? Kennst du den Unterschied zwischen These, Argument und Beweis? Sind dir die wichtigsten rhetorischen Figuren bekannt? Wenn nicht, dann bist du wie eine, die an einem Tanzwettbewerb teilnimmt, aber die Grundschritte nicht kennt, oder wie einer, der über den Wald schreiben soll, aber keine Baumarten benennen kann.

Anhand von vier Beispielen versuche ich die wichtigsten Begriffe und Taktiken der Redeanalyse zu klären. Manches ist vorausgesetzt. Wer auf einen hohen Berg steigen will, sollte schon Erfahrung mitbringen und etwas Kondition.




„… und Brutus ist ein ehrenwerter Mann“

Mark Anton, ein Freund Cäsars, hält eine Grabrede für den Ermordeten im antiken Rom, 44 v. Christus. Einer der Attentäter, Brutus, gibt ihm die Erlaubnis dazu, nachdem er selbst dem römischen Volk gegenüber den politischen Mord gerechtfertigt hat. Bedingung: Mark Anton dürfe nichts Schlechtes über die Mörder sagen. Also greift er zu einer wichtigen Waffe: Ironie. Nach und nach erinnert er das Volk an das Gute und Edle, das an Cäsar war unter dem Vorbehalt, dass es aber wohl nicht sein könne, denn „Brutus ist ein ehrenwerter Mann“. Der Schlüsselsatz, der sich mehrfach wiederholt mit steigender emotionaler Wirkung. Das lässt das Volk stutzen und misstrauisch werden. Rhetorische Fragen sind ein wichtiges Hilfsmittel: „Sah das der Herrschsucht gleich?“ (dass Cäsar die Krone, die man ihn dreimal angeboten hatte, dreimal abgelehnt hat).

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Die tiefe Trauer, die Mark Anton beim Anblick des von etlichen Messerstichen getroffenen Freundes empfindet, tut ein Übriges. Das Volk schwankt und ist bereit, auf seine Seite zu wechseln. Denn natürlich, Mark Antons Ziel ist Rache und das Erlangen der Macht, nach der auch Brutus strebt. Dann spielt er seinen Trumpf aus: das Testament Julius Cäsars. Er macht die Zuhörer neugierig, weckt ihre Hoffnung und ihre Gier womöglich etwas zu bekommen, zögert dann lange, lenkt ab, beteuert, niemandem Vorwürfe machen zu wollen und vollendet seinen Triumph mit der Verlesung des Testaments, in dem allerlei Begünstigungen des Volkes enthalten sind. Brutus muss fliehen, Mark Anton behält die Oberhand.

Eine brillante Rede aus dem Stück von Shakespeare, Julius Cäsar. Brillant, weil alles ineinander greift. Mark Anton benutzt die Behauptungen der Gegner und widerlegt sie indirekt durch Beispiele aus dem Leben Cäsars, ohne jedoch direkt die Mörder zu kritisieren. Er äußert Verständnis für die Bürger, Gewalt und Aufruhr liegen ihm fern. Scheinbar. Auch die Körpersprache, seine Tränen und die sprachlichen Mittel stimmen überein. Schließlich, und das ist das entscheidende, er hat etwas Konkretes in der Hand: das Testament. Rhetorik allein kann nicht anhaltend überzeugen. Er hat den Beweis dafür, dass Cäsar das Volk liebte, folglich nicht herrschsüchtig war, folglich zu Unrecht ermordet worden ist.

Hast du bemerkt, worauf es in der Einleitung ankommt? Da sind wieder die W-Fragen: Wer, wo, wann, zu wem, mit welcher Absicht und – in moderner Zeit – mit welchen Mitteln (Radio, Fernsehen, Zeitung, Internet)? Zunächst nennst du also die äußeren Faktoren, dann die inhaltlichen. Du beleuchtest die Argumentationsstrategie, benennst die sprachlichen Mittel und ihre Wirkung, und wenn die Rede sichtbar und hörbar ist, gehst du auch auf die Körpersprache ein und die Sprechweise. Das ist viel und es gibt kein Patentrezept dafür, wie man das alles elegant unterbringt. Am besten, du kennst dich in den Grundlagen aus, damit du dich auf den Aufbau der Redeanalyse konzentrieren kannst. Von außen nach innen ist eine gute Grundregel.

“I have a dream!“

Martin Luther King hielt am 28. August 1963 vor über 250.00 Menschen anlässlich des Marsches für Arbeit und Freiheit vor dem Lincoln Memoral in Washington diese berühmte Rede.

Er schildert die Situation der Schwarzen, die selbst hundert Jahre nach der Freiheitsproklamation, die der Präsident Lincoln unterzeichnet hatte, noch nicht frei seien (Konjunktiv, indirekte Rede :-)). Dann folgt sein kraftvolles Hauptargument in der Form einer Metapher: Man sei nach Washington gekommen, um einen Scheck einzulösen, nämlich das Versprechen der Freiheit aus der genannten Proklamation. Er könne nicht glauben, dass „die Bank der Gerechtigkeit bankrott ist (…) in den großen Tresorräumen der Gerechtigkeit dieser Nation.“




Ganz ähnlich wie Mark Anton kritisiert er nicht direkt, lobt sogar und appelliert an den materiellen Stolz der Amerikaner. Natürlich ist jeder Scheck der großen Nation gedeckt. Er vertraut auf Amerika und gerade deshalb fordert er Gerechtigkeit und Freiheit. Umgekehrt als bei Mark Anton steht sein Hauptargument am Anfang der Rede. Daraufhin warnt er eindringlich vor jeder Gewalt und dann erst kommen die berühmten ‚Ich habe einen Traum‘-Sequenzen, die übrigens improvisiert waren und nicht im Skript standen. Die Sprache ist voll von Metaphern wie in: „Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird.“

Er arbeitet mit einprägsamen Wiederholungen und seine Stimme ist zugleich ruhig und doch leidenschaftlich, kraftvoll und klar. Eine Rede, die man hören muss, um ihre Wirkung wirklich zu verstehen.

Beachte den Unterschied in der Einleitung zwischen einer wirklichen Rede wie hier und einer aus der Literatur wie oben. Die äußeren Faktoren, die sich auf ein reales Ereignis in der Vergangenheit beziehen, stehen im Präteritum in der Einleitung. Bei der Inhaltsangabe wechselst du ins Präsens. Bei Literatur ist alles Präsenz, weil das Buch immer vorliegt und als Gegenwart aufgefasst wird.

Aufforderung zur Gewalt durch Naturvergleiche

Einer der ältesten und verlogensten Tricks der Menschen. Denn wir leben von der Natur, sind selbst ein Teil von ihr, nennen sie oft Mutter und diese positive Einstellung zu ihr nutzen ideologische Redner, um Gewalt zu rechtfertigen. Noch einmal eine Rede, die wirklich gehalten wurde, aber vor allem durch die Literatur überliefert worden ist: die Rede von St. Just in Büchners Dantons Tod.

Er hält sie vor der Nationalversammlung in Paris zur Zeit der Schreckensherrschaft der Jakobiner. Eine gemäßigte Richtung mit Danton will sie beenden, Robespierre und sein Chefideologe St. Just wollen jeden Widerstand beseitigen.

Zunächst beschreibt St. Just das Wesen der Natur. Sie folge ruhig und unwiderstehlich ihren Gesetzen. Ein vulkanischer Ausbruch, eine Überschwemmung begrüben Tausende. Dann folgt der entscheidende Vergleich mittels einer rhetorischen Frage: „Ich frage nun: soll die geistige Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische? Soll eine Idee nicht ebenso gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt?“

Die geistige Natur, das ist die Revolution, die Entwicklung der Menschheit. Im Folgenden wird er sachlich, zynisch-brutal: „Was liegt daran, ob sie an einer Seuche oder an der Revolution sterben?“ Dann schwelgt er in Gewalt: „Die Menschheit wird aus dem Blutkessel wie die Erde aus den Wellen der Sündflut mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum ersten Male geschaffen.“

Die Lust an der Gewalt reißt die Abgeordneten mit wie ein Horrorfilm. St. Just spielt mit diesen Instinkten und gibt ihnen eine scheinbar vernünftige Berechtigung. Er zeigt auch die Grenzen der normalen Redeanalyse auf, denn fast alle echte Verführung beruht nicht auf geschickten rhetorischen Fragen, faszinierenden Metaphern, Euphemismen, hypotaktischem oder parataktischem Satzbau, was Lehrer so alles gern von Schülern hören möchte, sondern auf unangemessenen Vergleichen. Sie zu durchschauen, ist die Herausforderung.

Natur, was gibt es nicht in der Natur? Recht viel gruselig grausames. Manchmal fressen männliche Löwen ihren Nachwuchs. Die schwarze Witwe verschlingt das Männchen noch während der Begattung. Was folgt daraus für den Menschen? Im Nationalsozialismus argumentierte man so: Soll man das Unkraut etwa nicht ausreißen im Garten? Die Juden also nicht ausmerzen? In diesem extremen Beispieli sieht man, zu wie viel Unrecht der Vergleich mit der Natur führen kann. Ideologien beruhen meistens auf unsinnigen Vergleichen. Der Mensch wird mit Beispielen aus der Natur herabgewürdigt und dann kann man mit ihm machen, was man will. Wenn er nicht mehr ist als ein Elementarteilchen… – dann hat St. Just recht.




Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?

Doch umgekehrt ist es richtig und das zeigt der berühmteste Redner im meist gelesenen Buch.

„Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?“ (Matthäus 6,26)

Hier wird der Mensch von Christus als wertvoller Teil in die Natur hineingestellt und zum Vertrauen und damit auch zur Friedfertigkeit aufgefordert. Dieser Vergleich ist aufrichtend, des Menschen würdig, der aufrecht geht. Achte also auf das Menschenbild, das sich in den Vergleichen verbirgt.

Vor allem: Reden analysieren lernt man am besten, indem man welche schreibt und hält. Schlüpfe in die Rolle desjenigen, der beeinflussen oder indoktrinieren will. Dann wirst du es auch anlysieren können. Viel Erfolg!

Tipp: Unser Arbeitsheft zu Rhetorischen Figuren

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