Bahnwärter Thiel (Gerhart Hauptmann)

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Bahnwärter Thiel ist eine Novelle des deutschen Schriftstellers und Dramatikers Gerhart Hauptmann aus dem Jahr 1887. Es geht darin um das Ausgeliefertsein des Einzelnen an Zwänge des sozialen Systems der frühen Industriegesellschaft. Sie wird dem Naturalismus zugeordnet, einer literarischen Strömung, die auf Beobachtung der Realität basiert und sich mit zeitaktuellen Themen beschäftigt.

Inhaltliche Zusammenfassung Bahnwärter Thiel

Die Titelfigur, Bahnwärter Thiel, verrichtet seit zehn Jahren zuverlässig seine Arbeit, ist ruhig und gewissenhaft. Als seine geliebte Frau Minna bei der Geburt des Sohnes Tobias stirbt, heiratet Thiel ein Jahr später die Magd Lene, damit Tobias nicht ohne Mutter aufwachsen muss. Lene ist zupackend und dominant und schwingt sich zum Familienoberhaupt auf. Bahnwärter Thiel hat ihr nichts entgegenzusetzen, weil er sich von ihr abhängig gemacht hat. Als Lene ein eigenes Kind bekommt, beginnt sie, Tobias zu vernachlässigen. Obwohl Thiel seiner verstorbenen Frau versprochen hat, Tobias zu schützen, unternimmt er nichts dagegen. Trotzdem versucht er, ein guter Vater zu sein. Die gespannte Lage im Haushalt macht sich bemerkbar: Bahnwärter Thiel flüchtet sich in Visionen von seiner verstorbenen Frau. Sein schlechtes Gewissen quält ihn, weil er Lene nicht entschieden entgegentritt.

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Das Bahnwärterhäuschen steht einsam im Wald auf der Strecke zwischen Berlin und Frankfurt an der Oder. Hier in der Isolation driftet Thiel in seine nächtlichen Visionen ab, die zusehends krankhaft werden. Einmal sieht er seine verstorbene Frau über den Bahndamm gehen. Sie wendet sich von ihm ab und trägt ein Bündel. Bahnwärter Thiel schämt sich für seine Tatenlosigkeit. Doch Tobias scheint ihm Halt zu geben.

Zum Dank für seinen Dienst erhält Bahnwärter Thiel ein Stück Acker in der Nähe des Wärterhäuschens. Auch dort übernimmt Lene die Regie. Sie plant, es umzugraben und dort Kartoffeln zu pflanzen. Thiel stört, dass sie damit in seinen beruflichen Bereich eindringt, über den er bisher noch allein die Kontrolle hatte. Doch er widerspricht nicht, weil Tobias sich auf den angekündigten Ausflug zum Wärterhäuschen freut.

Gemeinsam machen sie sich auf. Thiel macht einen Spaziergang mit Tobias. Der ist begeistert von der Arbeit des Vaters und schmiedet Pläne, später ebenfalls Bahnmeister zu werden. Als Bahnwärter Thiel nachmittags seinen Dienst antritt, beginnt Lene mit der Arbeit an ihrem Kartoffelacker. Thiels Ermahnung, Tobias zu beaufsichtigen, ignoriert sie.

Ein Schnellzug ist angekündigt. Er rast heran, dann gibt er Notsignale und bremst plötzlich. Der bestürzte Bahnwärter Thiel ahnt, was geschehen ist. Tatsächlich findet er Tobias schwer verletzt und kaum noch atmend. Er wurde vom Zug erfasst. Während der Junge zur nächsten Station gebracht wird, geht Thiel zurück an seine Arbeit. Dort überfallen ihn wieder heftige Visionen. Er stolpert an der Bahnstrecke entlang und verspricht seiner toten Frau, dass er Rache nehmen wird. Als das zweite Kind schreit, fängt er an, es in blinder Wut zu würgen. Zum Glück reißt ihn die Signalglocke aus dem Wahnsinn. Sie kündigt einen Zug mit Arbeitern an. Darin wird auch der mittlerweile tote Tobias zurückgebracht. Lene folgt weinend. Thiel bricht bewusstlos zusammen und wird nach Hause getragen. Lene kümmert sich um ihn, bis auch sie erschöpft einschläft.

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Als die Arbeiter später auch Tobias’ Leiche zum Haus bringen, finden sie Lene erschlagen und das Baby mit durchtrennter Kehle vor. Thiel wird aufgegriffen, wie er an der Unglücksstelle auf den Gleisen sitzt und die Mütze seines Sohnes streichelt. Er kann erst mit Gewalt von dort entfernt werden. Vom Untersuchungsgefängnis in Berlin wird er noch am selben Tag in die psychiatrische Abteilung der Charité gebracht. Tobias’ Mütze hütet er wie einen Schatz.

Die wichtigsten Figuren in Bahnwärter Thiel

Bahnwärter Thiel

Obwohl er von kräftiger Statur ist, ist Thiel duldsam und sensibel. Er ist ein Antiheld, der es zulässt, dass er von äußeren Zwängen getrieben wird. Der Tod seiner Frau Minna zwingt ihn in die Ehe mit Lene, in der er sich nicht behauptet. Er ist gefangen in der gesellschaftlichen Ordnung und den Abhängigkeiten von anderen, beruflich und privat.

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Lene

Lene ist kräftig, zupackend und pragmatisch, aber auch bestimmend und brutal. Sie entspricht dem Bild der Arbeiterklasse. Reiner Pragmatismus lässt keine Feinsinnigkeit zu, übernimmt die Kontrolle über alles und lässt Gefühle abstumpfen. Sie nimmt keine Rücksicht auf Thiel und Tobias, vereinnahmt ihn ganz und kümmert sich einzig um ihr eigenes Kind, ist also nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Damit steht sie für die Zwänge, in die diese soziale Schicht eingebunden ist, und das Recht des Stärkeren.

Tobias

Er kommt äußerlich auf seine Mutter und ist für Thiel das Bindeglied zu seiner verstorbenen Frau, die das Gegenbild zu Lene ist. Sie war zart und feingliedrig und wird von Thiel fast religiös verehrt und idealisiert. Tobias gerät wörtlich zwischen die Räder und wird damit zum Symbol für die körperliche und soziale Bedrohung durch die zunehmende Mechanisierung der Lebenswelt. Die Eisenbahn steht symbolisch für das Maschinenzeitalter, in dem der menschliche Lebensrhythmus sich zunehmend den Maschinen anpassen muss.

Themen und Aussagen

Mechanisierung der Lebenswelt

Die Eisenbahn als zentrales Symbol steht für die moderne Welt, in der Maschinen den Takt angeben und der Mensch sich dieser Gewalt zunehmend unterordnet. Die Eisenbahnsymbolik setzt sich auch in den Beschreibungen der Personen und in der Charakterisierung von Lene fort. Sie wird als ausdauernde Arbeitsmaschine beschrieben und die sexuelle Abhängigkeit Thiels als ein ”Netz von Eisen”, das ihn einwebt. Wie der Zug kann auch Thiel die Gleise nicht verlassen und sein Schicksal scheint vorherbestimmt.

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Arbeiterklasse und soziale Abhängigkeit

In Werken des Naturalismus werden einfache Menschen zu Protagonist*innen: Arbeiter*innen, niedrige Beamte und Kleinbürger*innen. Der Naturalismus möchte die Realität abbilden, ohne sie zu beschönigen. Ästhetik soll hinter Realismus zurücktreten. So werden auch Ausgestoßene und Probleme dargestellt. Zu dem Eindruck tragen auch die genauen Beschreibungen, Orts- und Zeitangaben in der Novelle bei. Der harte, von Arbeit und Zwängen geprägte Alltag der arbeitenden Bevölkerung wird unbeschönigt dargestellt und weist damit auf gesellschaftliche Missstände hin.

Psychische Abhängigkeit und Getriebenheit

Thiel macht sich in mehrfacher Hinsicht von anderen Menschen abhängig. Zunächst in seiner beinahe religiösen Verehrung für seine erste Frau Minna. Sie ist die Ursache dafür, dass er nach ihrem Tod sein Leben nicht in die Hand nehmen kann und der pragmatischen, hart arbeitenden Lene das Zepter in die Hand gibt. Gegen ihre zupackende, kraftvolle Dominanz kommt er nicht an, auch weil sie eine körperliche Faszination auf ihn ausübt. Hier lässt er sich auch von seinen körperlichen Trieben steuern. Zusätzlich ordnet er sich seinen beruflichen Pflichten unter, schafft sich auf der anderen Seite aber auch dort einen Bereich, auf den Lene zunächst keinen Zugriff hat. Die Arbeitsstelle wird zunehmend zur Quelle der Identität. Sie ist strikt getrennt vom Privaten. Als Lene diese Grenze überschreitet, kommt es zum Unglück.

Weitere Infos zum Buch

In der Novelle verarbeitet Hauptmann eigene Erfahrungen. Er selbst lebte am Rande von Berlin. Die Idee für die Novelle geht wohl auf ein Bahnunglück zwischen Erkner und Fürstenwalde zurück, wobei kein genaues Ereignis damit in Verbindung gebracht werden konnte. Der Text wurde zweimal verfilmt. Einmal 1968 vom ZDF unter Regie von Werner Völger und einmal 1982 vom DDR-Fernsehen unter Regie von Hans-Joachim Kasprzik. Außerdem gibt es drei Audiobook-Bearbeitungen, unter anderem gelesen von Mario Adorf (Wortstark, 2004).

Hauptmann bezeichnete seine 1887 verfasste Erzählung als novellistische Studie, die er 1888 veröffentlichte. Sie wurde vom Publikum begeistert aufgenommen und mit Zola verglichen. Noch heute wird sie vielfach als Schullektüre gelesen und gilt als bedeutender deutscher Beitrag zum Naturalismus, auch wenn sie nicht ausschließlich naturalistisch ist.

Über den Autor

Geboren als Gerhart Johann Robert Hauptmann am 15. November 1862 im schlesischen Obersalzbrunn wuchs er als Sohn eines Hoteliers mit drei älteren Geschwistern auf. Erste Erfolge als Schriftsteller erlebte er ab 1885 in Berlin. Der Durchbruch gelang ihm mit dem Drama Vor Sonnenaufgang, das einen Theaterskandal auslöste. Der deutsche Schriftsteller und Dramatiker gilt als bedeutendster Vertreter des deutschen Naturalismus und erhielt 1912 den Nobelpreis für Literatur. Gerhart Hauptmann starb 1946 im niederschlesischen Agnieszków (deutsch: Agnetendorf).

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